Nun ist es so weit, die Schweiz steht vor einer kaum lösbaren Aufgabe: Personenfreizügigkeit mit der EU – ja oder nein? Schweizerinnen und Schweizer werden sich entscheiden müssen, denn am vergangenen Samstag hat die SVP beschlossen, eine Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit zu lancieren. Ob das eine gute Idee ist? – Die Initiative wird sicher zustande kommen. Auch wenn es gemäss dem schweizerischen System noch ein paar Jahre gehen wird, bis sie zur Abstimmung kommt, wird sie auf jeden Fall auf einen fruchtbaren Nährboden fallen.
Bezüglich Personenfreizügigkeit und was die Beziehungen zu EU im Allgemeinen betrifft, brodelt es schon länger in der "Volksseele", dass zeigte auch die Masseneinwanderungs-Initiative (MEI), die vom Volk angenommen wurde, auch wenn nur knapp – aber eine Mehrheit ist eine Mehrheit. Bei der Umsetzung im Parlament zeigte sich dann aber, dass die etablierte "Classe Politique" nicht im geringsten beabsichtigte, die Initiative auch in ein entsprechendes Gesetz umzusetzen. Von einem "offenen Verfassungsbruch" war die Rede. Dass Volksinitiativen in der Umsetzung verwässert werden, passiert immer öfter. Aber das nun vorliegende Gesetz enthält nun gar nichts von dem, was in der Verfassung vorgegeben ist (Eigene Steuerung der Zuwanderung mit Kontingenten, Inländervorrang). Der Volkswille wurde nicht respektiert und mit fadenscheinigen Argumenten uminterpretiert – was unweigerlich zu mehr Politikverdrossenheit führt und auch das System der direkten Demokratie in Frage zu stellen droht. Wozu mit einer Initiative die Verfassung ändern, wenn dann bei der Ausarbeitung der neue Verfassungsartikel einfach missachtet wird? Die Bestimmungen mit der Meldepflicht von offenen Stellen an die Arbeitsämter (RAV) hätte man schon viel früher einführen können. Indem man dies jetzt als Umsetzung der MEI "verkauft", torpediert man das Stimmvolk und provoziert geradezu eine Reaktion der SVP. Und die setzt jetzt alles auf eine Karte.
Als damals im Jahre 2000 das Schweizer Stimmvolk über die so genannten "Bilaterale I" und damit auch über das Abkommen über die Personenfreizügigkeit mit der EU abstimmte, wurden im Vorfeld sehr niedrige Zahlen für die zu erwartenden Zuwanderung genannt. Die Zahlen stellten sich im Nachhinein als viel zu tief heraus, so dass gewisse Teile der Bevölkerung sich getäuscht fühlen.
Tatsache ist, in den letzten zehn Jahren hat der Dichtestress in der Schweiz zugenommen, sei es bei der Suche nach Wohnungen oder auf den Strassen oder im öffentlichen Verkehr. Wenn mehr Menschen in die Schweiz kommen, benutzen diese logischerweise auch die Infrastruktur, deren Unterhalt immer teurer wird.
Mehr Menschen die in der Schweiz wohnen und arbeiten, das sollte doch auch mehr Geld, also mehr Steuereinnahmen bedeuten, was Allen zu Gute kommt? Doch hier liegt der Hund begraben: Es gab ein "Versprechen", dass Alle etwas vom Kuchen der Verträge mit der EU und insbesondere der Personenfreizügigkeit abbekommen werden. Nun über zehn Jahre danach ist klar, dass dies nicht der Fall ist, im Gegenteil: Ein gewisser Teil der Bevölkerung steht als Verlierer dar, und auch wenn sie eine Arbeitsstelle haben, kommen sie als "Working Poor" kaum über die Runden. Und der Druck durch einen drohenden Stellen-Verlust ist allgegenwärtig, was einen weiteren sozialen Abstieg beschleunigt. Und wer schon wenig verdient, leidet auch am meisten bei Lohn-Nullrunden und jährlich steigenden Krankenkassen-Prämien.
Aber es sind nicht nur die Working Poor, die leiden, auch die gesamte Mittelschicht wird erodiert, denn der Druck auf Löhne ist gestiegen. Und der Wohnungsmarkt ist zumindest in den Agglomerationen auch aus den Fugen geraten: Bezahlbare Wohnungen für Leute mit kleinen Einkommen sind immer schwieriger zu finden, gebaut werden hingegen Wohnblöcke und Siedlungen für gutverdienende Expats.
Was ich nicht verstehe, warum auf der einen Seite ständig von "Fachkräftemangel" gesprochen wird und auf der anderen Seite es eine hohe Zahl Arbeitslose in der Schweiz gibt. Die Wirtschaft stellt Leute über 50 auf Strasse und stellt frische Arbeitskräfte aus dem Ausland ein, weil es billiger ist, schalt es durch die Medien. Und auch bei der Bildung, mit der ja neue junge Arbeitskräft im Arbeitsmarkt ihren Platz finden sollen, werden immer wieder Budget-Kürzungen angesetzt, obwohl eigentlich jeder Politiker verspricht, bei der Bildung mehr zu investieren. Zusammengefasst, eine Sparrunde jagt die nächste.
Trotzdem ist der Grundsatz "Arbeitsplätze sichern" in letzter Zeit zum Standard-Argument für egal welches Abstimmungsthema geworden. Die Frage ist nur, welche Jobs denn gesichert werden sollen? Viele Jobs gibt es heute nicht mehr – sie werden ins Ausland verlagert oder durch Automatisierung wegrationalisiert. Beides sind Entwicklungen die sowieso stattfinden, unabhängig von einer Volksabstimmung in der Schweiz. Man sollte der Tatsache ins Auge sehen, dass es heute nicht mehr für jeden eine Arbeit gibt, und dieser Trend wird sich auf Grund der fortscheitenden Technologisierung auch nicht mehr umkehren.
Kommt hinzu, dass das Ansehen der Politiker und Politikerinnen, die in der Hauptstadt Bern die Geschicke unserer Landes lenken, seit Jahren am Sinken ist: Politikverdrossenheit, Vertrauensverlust und ein sinkendes Interesse an politischen Entscheidungen lassen sich an allen Ecken und Enden erkennen. Man hat oft den Eindruck, Politiker orientieren sich nicht mehr an Fakten, um ihre Entscheidungen zu treffen, sondern es zählen immer mehr die persönlichen Ideologien.
Dies ist der Nährboden für die kommende Abstimmung über die Personenfreizügigkeit. Doch was passiert mit der SVP als Partei oder der Schweiz, wenn die Abstimmung nicht im Sinne der SVP verläuft? Der Partei kann es bei einer Niederlage das Genick brechen, wenn sie bei ihrem absoluten Kernthema keine Mehrheit erreicht. Die Befürworter der Personenfreizügigkeit werden das Abstimmungsresultat für sich ausschlachten und dann erst recht einen Versuch unternehmen, die Schweiz in die EU zu führen, da die bilateralen Verträge allein nicht mehr sicher genug seien.
Sollte sich jedoch einen Mehrheit für den Ausstieg aus der Personenfreizügigkeit entscheiden, hätte dies eine Isolation der Schweiz zur Folge. In Gesellschaft und Politik läuft vieles schief in unserem Land, aber dass die Schweiz rein eigenständig überleben kann, ist eine Illusion. Zu sehr sind wir als Land mit den Ländern, die uns umgeben vernetzt -im guten wie im schlechten Sinne. Eine Isolation würde unter anderem zu einem massiven Preisanstieg in der Schweiz führen, da der Import stark verteuert würde. Auch rechtliche Unsicherheiten würden entstehen. Über kurz oder lang würde der Leidendruck so gross werden, dass es zu einem Crash kommt. Dann würde die Schweiz gar nicht mehr anders können, als alle Bedingungen der EU zu akzeptieren, den sie sitzt auf jeden Fall am längeren Hebel. Viele Unternehmen würden die Schweiz verlassen, der gesamte Mittelstand würde als Verlierer dastehen. Auch so eine Entwicklung würde der SVP negativ ausgelegt.
Wenn die SVP also eine Initiative lanciert, mit der sie ganz direkt die Personenfreizügigkeit mit der EU zur Abstimmungsfrage erhebt, spielt sie mit dem Feuer.