Review - Mit dem Microlino unterwegs im urbanen Dschungel

Review

Mit dem Microlino unterwegs im urbanen Dschungel

Von Archangel - 02.03.2023

Wie kann man platzsparend auf vier Rädern in der Stadt unterwegs sein? Der Schweizer "Microlino" will darauf eine Antwort sein. Doch was für ein Fahrerlebnis bietet er? Kürzlich hatte ich Gelegenheit, den Microlino in Zürich Probe zu fahren.

Quelle: Microlino

Von Form und Grösse knüpft der Microlino mit seinen zwei Sitzplätzen und 230 Liter Kofferraum an das Design vom BMW Isetta mit seiner charakteristischen Fronttür (gebaut von 1955 bis 1962) oder den Messerschmitt Kabinenroller (gebaut von 1953 bis 1964) an, die beide nur auf drei Rädern unterwegs waren.

Der Microlino von heute hat vier Räder - nur um das gleich klar zu stellen. Micro Mobility Systems-Gründer Wim Ouboter und seine beiden Söhne fragten sich schon vor Jahren "Wieviel Auto brauchst du?" Im Jahre 1999 hatten sie die Kickscooter populär gemacht und auch mit den aus ihrer Sicht "übertechnologisierten" Autos waren sie nicht zufrieden. So entwickelten sie ein Konzept für ein technologisch einfaches Fahrzeug für die Nutzung in der Stadt mit relativ kurzen Distanzen. Der Microlino wurde am Genfer Auto-Salon 2016 zum ersten Mal öffentlich gezeigt. Seit Mai 2022 läuft bei einem italienischen Partnerunternehmen die Serienproduktion und seit dem vergangenen Herbst werden die ersten Fahrzeuge ausgeliefert. Diese gehören zur so genannten PIONEER SERIES, die auf 999 Fahrzeuge limitiert ist.

Quelle: Microlino

Der Microlino stellt sich vor

"Der Microlino ist kein Auto" sagt der Hersteller selber. Was nach provokantem Marketing tönt, ist rein technisch gesehen auch korrekt. Er gehört zur europäischen Fahrzeugklasse L7e, zu der vierrädrige Kraftfahrzeuge mit einem Leergewicht von 450 kg (ohne Akku) gezählt werden. Die maximale Nutzleistung liegt bei 15 kW. Das Schweizer Bundesamt für Strassen ASTRA klassifiziert ihn als "Kleinmotorfahrzeug". Ebenfalls in der Kategorie "L" sind Motorräder, Quad Bikes und Leichtmotorfahrzeuge bis maximal 45 Stundenkilometer Höchstgeschwindigkeit angesiedelt.

Quelle: Microlino
Quelle: Microlino
Quelle: Microlino

Der Microlino ist mit drei verschiedenen Batteriegrössen erhältlich, nach denen sich auch die jeweils maximale Reichweite bemisst: 6 kWh (95 km), 10.5 kWh (175 km) und 14 kWh (230 km). Die Leistung des Elektromotors liegt bei 17 PS (12.5 kW). Geplant sind neben der PIONEER SERIES drei verschiedene Ausstattungslinien, die auch in verschiedenen Farben erhältlich sein sollen: URBAN, DOLCE und COMPETIZIONE sollen im Laufe des Jahres 2023 schrittweise eingeführt werden.

Quelle: Microlino
Quelle: Microlino

Die anderen technischen Spezifikationen lassen sich ebenfalls schnell zusammenfassen:

  • Gewicht: 496 kg - 530 kg (je nach Grösse der Batterie)
  • Länge: 2519 mm
  • Breite: 1473 mm
  • Höhe: 1501 mm
  • Sitzplätze: 2
  • Kofferraum: 230 Liter
  • Max. Geschw.: 90 km/h
  • Batterie: Lithium-Ionen (NMC/NCA)
  • Laden: Typ-2-Ladekabel für Ladestation / AC-Wallbox. Adapter für Haushaltssteckdose. Ladedauer 3 bis 4 Stunden. Kein Bidirektionales Laden

Die Ausstattung im Innenraum lässt sich auch mit wenigen Worten auf den Punkt bringen: Ein Frischluftgebläse sorgt für Sauerstoff und im Winter für Wärme und freie Sicht durch die Scheiben. Die Heckscheibe wird mittels eingelassenen Heizdrähten enteist. Die Seitenfenster lassen sich manuell auf- und zuschieben und je nach Ausstattungslinie hat der Microlino sogar ein Faltdach. Zudem ist er mit Sicherheitsgurten und Airbags ausgestattet.

Man darf an den Microlino punkto Ausstattung und Komfort nicht mit derselben Erwartungshaltung wie an einen Kleinwagen herangehen. Das entspricht nicht seinem Konzept - und sonst ist man schnell enttäuscht.
Archangel

Fahrerlebnis hinterm Steuer

Wie ernst es die Entwickler mit ihrer Kritik an den "übertechnologisierten" Autos gemeint haben, wird einem spätestens klar wenn man zur ersten Probefahrt einsteigt.

Es gibt keinen Start-Button sondern nur einen herkömmlichen Zündschlüssel. Auch ein Infotainment-System mit grossem Display im Cockpit sucht man vergebens, dafür hat der Microlino einen Smartphone-Halter und einen Bluetooth-Lautsprecher. Eine App zur Steuerung und Überwachung der wichtigsten Fahrzeugfunktionen gibt es ebenfalls nicht. Und auch auf Systeme wie einen Tempomat oder einen aktiven Abstands-Assistenten muss man verzichten.

Der Microlino für meine knapp einstündige Probefahrt gehörte zur Ausstattungslinie PIONEER SERIES. Nach einer kurzen Einweisung in die wichtigsten Bedienungselemente – so viele hat der Microlino ja gar nicht – ging es dann auch schon los. (Da der Microlino vor der Probefahrt weder von innen noch von aussen gereinigt wurde, ist auf meinen Bildern ziemlich viel Staub und Dreck zu sehen.)

Schon das Einstiegen ist anders, da der Microlino nur eine grosse Tür in der Front zum Aufklappen hat. Diese kann manuell geöffnet und geschlossen werden. Sitzen tut man wortwörtlich ganz vorne, wie man auf diesem Bild gut sehen kann - der Microlino hat keine Front mit Motorhaube oder Stauraum.

Wenn man sitzt, ist der Innenraum überraschend geräumig. Es gibt keine einzelnen Sitze sondern eine durchgehende Sitzbank für zwei Personen mit je einem Sicherheitsgurt. So gibt es auch keine Mittelkonsole. Die Sitzposition hinter dem Steuer ist recht bequem. Da ich mit dem Microlino nur alleine unterwegs gewesen bin, kann nicht nichts zu den Platzverhältnisse mit zwei Personen sagen.

Die Instrumente sind einfach gehalten, aber leicht zu bedienen und alle wichtigen Informationen, wie Geschwindigkeit und Reichweite, werden gut lesbar angezeigt.

Die Rundumsicht nach aussen ist ebenfalls gut für das Fahren in der Stadt. Ein Rückspiegel in der Mitte fehlt allerdings, man muss sich auf die kleinen Aussenspiegel verlassen, in die auch die Scheinwerfer integriert sind.

Das Fahrerlebnis mit dem Microlino kann ich nur als "Gokart-Feeling" beschreiben. Dies entsteht vor allem durch die die spezielle Sitzposition im Fahrzeug und seine geringe Grösse. Er ist aber auch sehr wendig überraschend agil. Ein Verkehrshindernis ist man innerorts mit dem Microlino sicher nicht, dafür ist man mit ihm zu flott unterwegs. Seine Höchstgeschwindigkeit liegt bei 90 km/h. Damit wäre er auch für die Autobahn zugelassen, wobei ich das bei meiner Probefahrt bewusst ausgelassen habe.

Aus einem Kein Vortritt heraus kann man sich gut in den fliessenden Verkehr einfädeln, dafür bietet er ausreichend Beschleunigung. Er lässt sich auch bei recht hoher Geschwindigkeit in eine Kurve einlenken - wobei das ist ein Fahrstil, der dem Microlino definitiv nicht liegt. Wer es trotzdem eilig hat, kann den Boost Mode aktivieren - allerdings geht das dann auf Kosten der Reichweite.

Zum Parken genügen ihm natürlich kleine Parklücken. Für das Laden an einer Ladestation ist er ebenfalls ausgerüstet, auch wenn das Laden während meiner Probefahrt nicht selber getestet habe. Die Ladezeit wird vom Hersteller mit rund 4 Stunden angegeben, was für den kleinen Akku viel zu lang ist.

Beim Parken muss man zwingend die manuelle Handbremse links von der Sitzbank ziehen, denn der Microlino kennt nur vorwärts, rückwärts und neutral und keine P-Position. Will man beim Rangieren schnell zwischen vorwärts und rückwärts wechseln, benötigt der Microlino immer eine "Denksekunde" bis er auf den Richtungswechsel reagiert.

Komfort wird beim Microlino eher klein geschrieben. Er ist sehr hart gefedert und im Innenraum wird es recht laut beim Fahren. Für Bremsen und Lenken muss man auffallend viel Kraft aufwenden.

Wirklich schade ist, dass unverzichtbare Fahrhilfen wie ein Tempomat oder ein aktiver Abstands-Assistent fehlen. Gerade im dichten Stadtverkehr oder in Tempo 30-Zonen wäre ich dafür echt froh gewesen.
Archangel

Das Platzangebot hinterm Steuer habe ich ja schon beschrieben. Hinter der Sitzbank findet sich Raum für 2-3 Taschen oder "drei Kisten Bier" - wer lieber in dieser Masseinheit denkt.

Vision und Wirklichkeit

Aber löst der Microlino die Verkehrsprobleme in unseren Städten? Ich will mich hier gar nicht erst auf ein Pro und Contra zu den verschiedenen und gegensätzlichen Konzepten wie Mobilität in Zukunft aussehen soll, einlassen. Und es wäre auch nicht fair, dieses kontrovers diskutierte Thema allein dem Microlino aufzuladen.

Ich denke, nur weil er klein und kompakt ist und einen kleinen "Fussabdruck" hat, lösen weder er noch vergleichbare Fahrzeuge von anderen Anbietern die Probleme in den Agglomerationen mit hohem Verkehrsaufkommen. Auch der Microlino ist schlussendlich ein Vertreter der "individuellen motorisierten Mobilität" - und genau diese wird in immer mehr Städten zurückgedrängt, und das unabhängig von Antriebsart oder Bauform.

Der Microlino an sich mag ja einen gewissen Coolness-Faktor haben, aber das Konzept dahinter erschliesst sich mir bisher nicht. Er spielt im wachsenden Markt von "Ecomobility" und "Urban Mobility" mit elektrischen Klein-Fahrzeugen und Car Sharing-Angeboten - wobei ich sagen muss, zwischen Vision und Wirklichkeit sehe ich hier gegenwärtig noch sehr grosse Differenzen.

Fazit und Preis

Der Microlino bietet sozusagen "Mobility Basic" für zwei Personen und drei Getränke-Harassen. Die Entwickler haben bewusst auf elektronische Assistenten und Komfort und schnelle Ladetechnik verzichtet. Das ist ihr konzeptionelles Vorrecht, wobei ich mir ein Fahrzeug wie den Microlino eher als "Smartphone auf vier Rädern" vorstellen würde - bereit für die Vernetzung mit Verkehrsleitsystemen oder autonomem Fahren. Eine App für den Microlino ist laut den FAQ auf der Webseite in Planung, allerdings nur für Funktionen wie die Steuerung der Heizung.

Quelle: Microlino

Kurze Distanzen in der Stadt und in der Agglomeration lassen sich mit ihm problemlos zurücklegen, wenn man die eigenen Komfort-Ansprüche entsprechend herunterschraubt. Längere Strecken würde ich mit ihm nicht zurücklegen wollen - dafür ist das Fahren mit ihm zu anstrengend.

So sehe ich den Microlino eher als Zweit- oder Drittauto. Das dürfte allerdings eine Vorstellung sein, die dem Konzept seiner Erfinder zuwiderläuft. Und wie schon gesagt, der allgemeine Trend läuft sowieso gegen das Auto als individuelles Verkehrsmittel, wobei Mobilität ein Grund-Bedürfnis und -Recht ist und bleibt.

Auch angesichts des Preises - die PIONEER SERIES ist ab CHF 20’990 erhältlich, der URBAN schlägt mit mindestens CHF 14’990.00 zu Buche - stellt sich die Frage nach der Zielgruppe. Wer aus Überzeugung möglichst umweltfreundlich unterwegs sein will, wird dafür kaum ein kleines Elektroauto wählen, sondern eher ein Bike oder den öffentlichen Verkehr. Und wer ein Auto braucht, wird einen einfachen Preisvergleich machen: Um nur ein Beispiel zu machen: Den TWINGO Electric von Renault gibt es ab CHF 24’000. Klar basieren die beiden Fahrzeuge auf sehr unterschiedlichen Konzepten und die Hersteller haben auch diametrale Vorstellungen von Mobilität, aber der finanzielle Sprung von der PIONEER SERIES zum TWINGO ist nicht sehr gross und fällt meiner Meinung nach zu Ungunsten des Microlino aus. Im schlimmsten Fall entwickeln sich der Microlino und andere Vertreter dieses Fahrzeugs-Typs zu Status-Symbolen der Besserverdienenden in Agglomerationen, die damit ihr vermeintlich umweltbewusstes Gewissen zur Schau stellen wollen.

In der Schweiz ist für das Fahren mit dem Microlino mindestens ein Führerausweis Kategorie B1 (Klein- und dreirädrige Motorfahrzeuge mit einem Leergewicht von nicht mehr als 550 kg) vorgeschrieben.

Verkauft wird der Microlino ausschliesslich online, auf der Webseite sind auch alle technischen Informationen ersichtlich sowie der Umfang der verschiedenen Ausstattungslinien. Wer den Microlino selber Probefahren will, kann dies in der Schweiz an verschiedenen AMAG-Standorten in Zürich, Bern und Genf tun.